Neurophysiologische Mechanismen des statischen Dehnens
Inhaltsangabe:
- Einleitung
- Akute neurophysiologische Effekte des statischen Dehnens
- Propriozeptive Reflexmechanismen
- Spinale Hemmung und reduzierte motoneuronale Erregbarkeit
- Zentrale (kortikospinale) Einflüsse
- Mechanische und sensorische Faktoren
- Chronische Anpassungen durch regelmäßiges statisches Dehnen
- Auswirkungen auf Kraft und Leistung (chronisch)
- Aktuelle Erkenntnisse im Kontext bestehender Annahmen
- Fazit
- Quellen
Einleitung
Statisches Dehnen (das Halten eines Muskels in einer gedehnten Position über eine gewisse Dauer) wird traditionell zur Verbesserung der Bewegungsreichweite (Range of Motion, ROM) und möglicherweise zur Verletzungsprävention eingesetzt. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahrzehnten kontroverse Diskussionen, ob längeres statisches Dehnen vor sportlichen Aktivitäten die Kraft- und Leistungsfähigkeit vorübergehend mindert. Neuere Untersuchungen relativieren diese Sorge: Kurzes statisches Dehnen (<60 Sekunden pro Muskel) in Kombination mit Aufwärmen hat meist allenfalls triviale Leistungseinbußen zur Folge. Längeres und intensives Dehnen (>60 s) kann hingegen akute Kraftminderungen verursachen. Im Folgenden werden die neurophysiologischen Mechanismen beleuchtet, die diesen Effekten zugrunde liegen. Dabei werden aktuelle Studien (letzte ~5–10 Jahre) und Übersichtsarbeiten einbezogen, um bestätigte sowie revidierte Annahmen herauszuarbeiten.
Akute neurophysiologische Effekte des statischen Dehnens
1. Propriozeptive Reflexmechanismen
Beim schnellen Dehnen eines Muskels lösen Muskelspindeln einen Dehnungsreflex aus, der den gedehnten Muskel kontrahiert, um Überdehnung zu verhindern. Statisches Dehnen wird jedoch langsam und kontrolliert ausgeführt, sodass die anfängliche Spindelaktivität schnell nachlässt. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass statisches Halten in Länge die Spindel-Afferenz und zugehörige Reflexe rasch reduziert – die H-Reflexe (elektrisch induzierte monosynaptische Reflexantworten) bleiben entweder unverändert oder kehren binnen Sekunden auf das Ausgangsniveau zurück. Ebenso wird der oft diskutierte Beitrag des Golgi-Sehnenorgans (GTO) relativiert: Zwar kann anhaltende Spannung im Muskel theoretisch über GTO-Aktivierung eine autogene Hemmung (Erschlaffung des Muskels) auslösen, doch neuere Reviews stufen diesen Effekt als kurzlebig und leistungsmäßig vernachlässigbar ein. Mit anderen Worten: Klassische Reflexmechanismen (Muskelspindel- und GTO-Reflex) werden durch statisches Dehnen zwar beeinflusst, aber ihr Einfluss hält nicht lange genug an, um die nachfolgende Leistung maßgeblich zu bestimmen.
2. Spinale Hemmung und reduzierte motoneuronale Erregbarkeit
Ein zentrales akutes Phänomen ist die Abnahme der spinalen Reflexexzitabilität und der motoneuronalen Ausgabesignalstärke während und unmittelbar nach langem Dehnen. Bereits Avela et al. (1999) und Fowles et al. (2000) dokumentierten eine verringerte maximale willkürliche Aktivierung des gedehnten Muskels nach >60 s Dehnhalten. Neuere Studien bestätigen, dass längeres statisches Dehnen zu einer reduzierten EMG-Aktivität (Muskel-Elektromyographie) und verringerten H-Reflex- und V-Wellen-Amplituden führt, was auf eine gedämpfte Ansteuerung der α-Motoneurone hindeutet. Konkret fanden Trajano et al. (2013) bei Dehnungen >60 s im Wadenmuskel eine Abnahme der EMG-Amplitude und der V-Welle (eine reflexbasierte Kenngröße für die zentrale Motoneuronenauslastung). Diese spinale Hemmung wird teilweise auf präsynaptische Mechanismen zurückgeführt: Durch die andauernde Dehnung können Ia-Afferenzen (Muskelspindeln) interneuronale Hemmschaltkreise aktivieren, welche die Reflexübertragung dämpfen. Auch Ib-Afferenzen vom Golgi-Sehnenorgan könnten inhibitorisch auf die α-Motoneurone wirken (autogene Hemmung), wobei – wie oben erwähnt – ihr Beitrag gering sein dürfte. Die Folge dieser spinalen Anpassungen ist eine vorübergehend erschwerte Rekrutierung motorischer Einheiten, was die beobachteten Kraft- und Leistungsdefizite nach langem Dehnen erklärt.
3. Zentrale (kortikospinale) Einflüsse
Interessanterweise deuten neuere Untersuchungen darauf hin, dass das zentrale Nervensystem oberhalb der spinalen Ebene kaum gedämpft wird. So blieb die corticale Erregbarkeit (gemessen über motorisch evozierte Potenziale, MEP, via transkranieller Magnetstimulation) nach 5×60 s statischem Wadenmuskel-Dehnen unverändert. Die reduzierten neuralen Signale scheinen also hauptsächlich auf spinaler Ebene (Rückenmark und periphere Reflexe) zu entstehen, während das Gehirn sein Ausgabesignal im Prinzip weiter unvermindert sendet. Eine aktuelle Studie von Pulverenti et al. (2019) untermauert dies: Nach 5×60 s Dehnen des Trizeps surae blieb das MEP unverändert, jedoch sank die EMG-Aktivität deutlich ab. Man schließt daraus, dass statisches Dehnen primär die Motoneuronempfindlichkeit und die synaptische Übertragung im Rückenmark herabsetzt, nicht aber die Ausgangsimpulse vom Motorcortex. Zusätzlich wurde die Hypothese aufgestellt, dass langes Dehnen die persistenten inward currents (PICs) der Motoneurone abschwächen könnte – dies sind neuronale Ströme, die die anhaltende Feuerfrequenz eines Motoneurons fördern. Eine experimentelle Überprüfung ergab jedoch, dass mäßig lange Dehnhaltungen (3×1 min) keine signifikante Veränderung in den geschätzten PIC-Amplituden hervorriefen. Somit bleibt unklar, ob dieser Mechanismus eine Rolle spielt oder nur bei sehr intensiven/besonderen Bedingungen greifen würde.
4. Mechanische und sensorische Faktoren
Obwohl der Fokus auf neurophysiologischen Aspekten liegt, sei erwähnt, dass statisches Dehnen auch mechanische Veränderungen im Muskel-Sehnen-Apparat bewirkt, die indirekt neuromuskuläre Folgen haben können. Bereits nach einer einzigen Dehnepisode sinkt die Steifigkeit der muskulotendinösen Einheit deutlich ab. Das Gewebe wird also dehnbarer (höhere Compliance), was zum einen die Beweglichkeit erhöht, zum anderen aber in leistungsrelevanten Aktionen wie Sprüngen die Speicherung elastischer Energie reduziert. Eine geringere Steifigkeit bedeutet, dass im Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus (Stretch-Shortening Cycle) weniger Rückstellenergie aus der Dehnungsphase gewonnen werden kann. Außerdem verschiebt eine anhaltende Dehnung die Muskel-Sehnen-Länge vorübergehend, was das Längen-Spannungs-Verhältnis der Muskelfasern verändert – die Kraftproduktion bei üblichen Gelenkwinkeln kann dadurch etwas nachlassen. Interessant ist auch der Einfluss auf die Wahrnehmung: Statisches Dehnen führt oft zu einer erhöhten Dehntoleranz schon unmittelbar danach – das heißt, die Schmerz- bzw. Dehnungsempfindungsschwelle steigt, sodass Probanden eine stärkere Dehnung tolerieren, ohne einen Reflex oder Abwehrspannung auszulösen. Diese akute Sensorik-Anpassung ist vermutlich auf eine kurzzeitige Desensibilisierung von Dehnungs- und Schmerzrezeptoren zurückzuführen und weniger auf echte strukturelle Änderungen. Zwischenfazit (akut): Unmittelbar nach statischem Dehnen kommt es zu einer Kombination aus reflektorischer Entspannung und spinaler Inhibition. Muskelspindeln feuern weniger, Golgi-Sehnenorgane können Entspannung fördern, und insgesamt ist die Reflexantwort des gedehnten Muskels gedämpft. Gleichzeitig sinkt die elektrische Aktivität im Muskel (EMG) infolge geringerer motoneuronaler Ansteuerung, obwohl das zentrale Signal vom Gehirn unverändert ankommt. Diese neurophysiologischen Effekte – zusammen mit erhöhter Gewebekompliance – erklären, warum langes intensives Dehnen kurzfristig zu einem leichten Kraftverlust führen kann. Wichtig ist aber: Die meisten dieser Effekte sind vorübergehend. Bereits Sekunden bis wenige Minuten nach Beenden des Dehnens normalisieren sich Reflexaktivität und neuromuskuläre Funktion wieder weitgehend. Dynamische Aufwärmübungen im Anschluss können verbleibende Hemmeffekte zusätzlich aufheben, sodass bei vernünftiger Anwendung keine nachhaltige Leistungsminderung zu befürchten ist.
Chronische Anpassungen durch regelmäßiges statisches Dehnen
Regelmäßiges statisches Dehnen (Dehntraining über Wochen) führt zu einer verbesserten Flexibilität. Lange wurde angenommen, die Muskeln würden dadurch dauerhaft länger und elastischer. Neuere Studien zeigen jedoch, dass die erhöhte Bewegungsreichweite zu einem großen Teil auf einer erhöhten Dehntoleranz beruht – das Nervensystem “erlaubt” also größere Gelenkwinkel, bevor Schmerz oder Reflexe einsetzen. Konkret bedeutet dies, dass Personen nach einigen Wochen Dehntraining einen stärkeren Zug im Muskel ertragen können, ohne Abwehrspannung aufzubauen. Diese Anpassung wird als veränderte Wahrnehmungsschwelle interpretiert: Das subjektive Empfinden von Dehnungsintensität verschiebt sich. Interessanterweise konnte in Untersuchungen keine enge Kopplung zwischen gesteigerter Dehntoleranz und veränderter Reflexaktivität gefunden werden – z.B. blieb die H-Reflex-Erregbarkeit vor und nach einem Dehnprogramm meist unverändert, trotz deutlich vergrößerter Beweglichkeit. Dies untermauert die Idee, dass zentralnervöse Verarbeitung und Schmerzmodulation (und nicht primär eine Schwellenerhöhung der Muskelspindeln) für die Flexibilitätszunahme verantwortlich sind. Neben der sensorischen Toleranz können auch mechanische Anpassungen auftreten, insbesondere bei intensivem oder langfristigem Dehntraining. Einige Studien berichten nach Wochen des Dehnens von reduzierter passiver Muskelsteifigkeit und strukturellen Veränderungen: So fand z.B. Nakamura et al. (2012) eine Abnahme der passiven Steifigkeit des Gastrocnemius nach 4 Wochen regelmäßigem Dehnen. Blazevich et al. (2014) beobachteten nach Waden-Dehntraining Anpassungen in der Muskulatur und Sehne ohne drastische architektonische Änderungen, was dafür spricht, dass funktionelle Neuromechanik (z.B. veränderte Spannungslage) eine Rolle spielt. Andere Untersuchungen stellten fest, dass selbst achtwöchiges intensives Dehnen kaum die Faserlänge oder Sehnenlänge verändert – d.h. die Zunahme der Beweglichkeit erfolgt ohne signifikante strukturelle Verlängerung der Gewebe. Allerdings gibt es neuere Evidenz, dass unter bestimmten Bedingungen tatsächlich muskuläre Hypertrophie und Längenanpassungen stattfinden können: Panidi et al. (2021) zeigten bei jugendlichen Volleyballspielerinnen nach 12 Wochen statischem Dehntraining (5×/Woche) eine signifikante Zunahme des Muskelquerschnitts und der Faszikellänge im gastrocnemius des gedehnten Beins gegenüber dem unbehandelten Bein. Ebenso fand Andrade et al. (2021) nach 12 Wochen Dehnen eine Verlängerung der Muskelfasern im Wadenmuskel (triceps surae), wenn auch ohne Zunahme der Muskelstärke. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass intensives Dehnen einen mechanischen Reiz darstellen kann, der in gewissem Maße Muskelwachstum oder mehr Sarcomere in Serie induziert– ein Konzept, das früher kaum in Betracht gezogen wurde. Allerdings sind solche Befunde nicht einheitlich: Andere Studien fanden keine Veränderungen in Muskelstärke oder Architektur trotz Dehnprogrammen. Eine aktuelle Übersichtsarbeit (Nunes et al. 2020) schlussfolgert, dass low-intensity-Dehnen wahrscheinlich keine Hypertrophie bewirkt, aber hochintensives Dehnen potentiell genügend mechanischen Stress für Muskelwachstum erzeugen könnte. Auf neuronaler Ebene wurden bei regelmäßigem Dehnen subtile Anpassungen beobachtet. Eine bemerkenswerte Studie zeigte, dass Dehntraining die reziproke Hemmung verbessern kann. Blazevich et al. (2012) berichteten, dass nach mehrwöchigem Waden-Dehntraining eine verstärkte reziproke Inhibition der Antagonisten (Schienbeinmuskulatur) während freiwilliger Bewegungen auftrat. Diese erhöhte inhibitorische Interaktion bedeutet, dass sich bei Bewegungen der Agonist besser entspannen kann – ein Effekt, der die Bewegungsökonomie steigern könnte. Allgemein scheint regelmäßiges Dehnen die neuromuskuläre Koordination im Endbereich der Bewegung zu verbessern: Athleten können die Muskulatur am Gelenkanschlag kontrollierter entspannen und anspannen. Dauerhaft veränderte spinale Reflexe in Ruhe (z.B. ein niedrigerer H-Reflex im entspannten Zustand) werden hingegen weniger konsistent festgestellt. Stattdessen ist die Fähigkeit, hohe Dehnreize ohne Schutzspannung auszuhalten, der Hauptgewinn aus neuraler Sicht.
Auswirkungen auf Kraft und Leistung (chronisch)
Regelmäßiges statisches Dehnen (Dehntraining über Wochen) führt zu einer verbesserten Flexibilität. Lange wurde angenommen, die Muskeln würden dadurch dauerhaft länger und elastischer. Neuere Studien zeigen jedoch, dass die erhöhte Bewegungsreichweite zu einem großen Teil auf einer erhöhten Dehntoleranz beruht – das Nervensystem “erlaubt” also größere Gelenkwinkel, bevor Schmerz oder Reflexe einsetzen. Konkret bedeutet dies, dass Personen nach einigen Wochen Dehntraining einen stärkeren Zug im Muskel ertragen können, ohne Abwehrspannung aufzubauen. Diese Anpassung wird als veränderte Wahrnehmungsschwelle interpretiert: Das subjektive Empfinden von Dehnungsintensität verschiebt sich. Interessanterweise konnte in Untersuchungen keine enge Kopplung zwischen gesteigerter Dehntoleranz und veränderter Reflexaktivität gefunden werden – z.B. blieb die H-Reflex-Erregbarkeit vor und nach einem Dehnprogramm meist unverändert, trotz deutlich vergrößerter Beweglichkeit. Dies untermauert die Idee, dass zentralnervöse Verarbeitung und Schmerzmodulation (und nicht primär eine Schwellenerhöhung der Muskelspindeln) für die Flexibilitätszunahme verantwortlich sind. Neben der sensorischen Toleranz können auch mechanische Anpassungen auftreten, insbesondere bei intensivem oder langfristigem Dehntraining. Einige Studien berichten nach Wochen des Dehnens von reduzierter passiver Muskelsteifigkeit und strukturellen Veränderungen: So fand z.B. Nakamura et al. (2012) eine Abnahme der passiven Steifigkeit des Gastrocnemius nach 4 Wochen regelmäßigem Dehnen. Blazevich et al. (2014) beobachteten nach Waden-Dehntraining Anpassungen in der Muskulatur und Sehne ohne drastische architektonische Änderungen, was dafür spricht, dass funktionelle Neuromechanik (z.B. veränderte Spannungslage) eine Rolle spielt. Andere Untersuchungen stellten fest, dass selbst achtwöchiges intensives Dehnen kaum die Faserlänge oder Sehnenlänge verändert – d.h. die Zunahme der Beweglichkeit erfolgt ohne signifikante strukturelle Verlängerung der Gewebe. Allerdings gibt es neuere Evidenz, dass unter bestimmten Bedingungen tatsächlich muskuläre Hypertrophie und Längenanpassungen stattfinden können: Panidi et al. (2021) zeigten bei jugendlichen Volleyballspielerinnen nach 12 Wochen statischem Dehntraining (5×/Woche) eine signifikante Zunahme des Muskelquerschnitts und der Faszikellänge im gastrocnemius des gedehnten Beins gegenüber dem unbehandelten Bein. Ebenso fand Andrade et al. (2021) nach 12 Wochen Dehnen eine Verlängerung der Muskelfasern im Wadenmuskel (triceps surae), wenn auch ohne Zunahme der Muskelstärke. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass intensives Dehnen einen mechanischen Reiz darstellen kann, der in gewissem Maße Muskelwachstum oder mehr Sarcomere in Serie induziert– ein Konzept, das früher kaum in Betracht gezogen wurde. Allerdings sind solche Befunde nicht einheitlich: Andere Studien fanden keine Veränderungen in Muskelstärke oder Architektur trotz Dehnprogrammen. Eine aktuelle Übersichtsarbeit (Nunes et al. 2020) schlussfolgert, dass low-intensity-Dehnen wahrscheinlich keine Hypertrophie bewirkt, aber hochintensives Dehnen potentiell genügend mechanischen Stress für Muskelwachstum erzeugen könnte. Auf neuronaler Ebene wurden bei regelmäßigem Dehnen subtile Anpassungen beobachtet. Eine bemerkenswerte Studie zeigte, dass Dehntraining die reziproke Hemmung verbessern kann. Blazevich et al. (2012) berichteten, dass nach mehrwöchigem Waden-Dehntraining eine verstärkte reziproke Inhibition der Antagonisten (Schienbeinmuskulatur) während freiwilliger Bewegungen auftrat. Diese erhöhte inhibitorische Interaktion bedeutet, dass sich bei Bewegungen der Agonist besser entspannen kann – ein Effekt, der die Bewegungsökonomie steigern könnte. Allgemein scheint regelmäßiges Dehnen die neuromuskuläre Koordination im Endbereich der Bewegung zu verbessern: Athleten können die Muskulatur am Gelenkanschlag kontrollierter entspannen und anspannen. Dauerhaft veränderte spinale Reflexe in Ruhe (z.B. ein niedrigerer H-Reflex im entspannten Zustand) werden hingegen weniger konsistent festgestellt. Stattdessen ist die Fähigkeit, hohe Dehnreize ohne Schutzspannung auszuhalten, der Hauptgewinn aus neuraler Sicht.
Aktuelle Erkenntnisse im Kontext bestehender Annahmen
Durch neuere wissenschaftliche Arbeiten wurden einige klassische Annahmen bestätigt, während andere revidiert oder erweitert werden mussten: • Leistungsbeeinträchtigung durch Dehnen: Die früher verbreitete Warnung, statisches Dehnen generell vor Sport sei leistungsmindernd, musste relativiert werden. Heute gilt: Kurz gehaltenes statisches Dehnen (<60 s) im Aufwärmen beeinträchtigt Sprint-, Sprung- oder Kraftleistungen kaum oder nur minimal. Erst sehr langes Dehnen (>60 s pro Muskel) kann spürbare, aber kurzfristige Defizite verursachen. Entscheidend ist also die Dosis und der Kontext. • Rolle der Reflexe: Die traditionelle Erklärung, ein anhaltender Dehnreiz führe über Muskelspindel- und GTO-Reflex zur Muskelentspannung (Stichwort “Dehnungsreflex-Abschaltung”), ist nur teilweise korrekt. Zwar wird der myotatische Reflex während des Haltens tatsächlich unterdrückt, jedoch zeigt sich, dass diese Reflexdämpfung nach Dehnungsende schnell abklingt. Neuere Untersuchungen betonen daher andere Faktoren (z.B. zentrale/spinale Hemmung und Dehntoleranz) als entscheidender für akute Effekte. • Mechanische vs. neuronale Limitierung: Früher ging man davon aus, dass Dehntraining vor allem die Muskellänge und Sehnenelastizität erhöht. Heute wissen wir, dass Verbesserungen der Beweglichkeit zu großen Teilen auf veränderten neuralen Empfindungen beruhen. Die erhöhte Toleranz gegenüber Dehnspannung – also eine verminderte Schmerzempfindlichkeit bei Dehnung – erklärt die ROM-Steigerung stärker als strukturelle Verlängerungen. Strukturelle Anpassungen (z.B. mehr Sarcomere) können vorkommen, erfordern aber vermutlich sehr hohe Dehnintensitäten oder längere Zeiträume und sind nicht in jedem Probanden nachweisbar. • Neue Aspekte: In jüngerer Zeit wurden psychologische Faktoren und bislang wenig betrachtete neurophysiologische Phänomene diskutiert. Behm et al. (2021) weisen darauf hin, dass ein Nocebo-Effekt (die Erwartung, nach Dehnen schwächer zu sein) oder mentale Müdigkeit die Performance beeinflussen könnten– Aspekte, die in älteren Studien kaum berücksichtigt wurden. Außerdem wird das Konzept der persistenten Motoneuronenströme (PIC) als möglicher Modulationspunkt untersucht. Solche Ströme können die Selbst-Erregung von Motoneuronen aufrechterhalten; eine Dämpfung der PIC durch Dehnen wäre eine neue Erklärung für andauernde Hemmeffekte. Erste Ergebnisse hierzu sind jedoch nicht eindeutig (moderates Dehnen zeigte keinen Effekt auf PIC-Indikatoren). Diese neuen Blickwinkel erweitern die Diskussion und zeigen, dass das Thema komplexer ist als rein “Reflex an oder aus”.
Fazit
Statisches Dehnen bewirkt ein Zusammenspiel aus peripheren, spinalen und zentralen Anpassungen. Akut stehen eine reduzierte Reflexaktivität und eine vorübergehende Hemmung der motorischen Ansteuerung im Vordergrund, begleitet von erhöhter Gewebedehnbarkeit. Chronisch überwiegt eine gesteigerte Dehntoleranz, ergänzt durch kleine Änderungen der mechanischen Eigenschaften des Muskels und subtile neuronale Anpassungen. Neue Studien der letzten Jahre bestätigen viele Grundlagen (z.B. akute Reflexdämpfung, ROM-Steigerung) und liefern gleichzeitig erweiterte Erkenntnisse darüber, wie und warum Dehnen wirkt. Für Praktiker bedeutet dies: Richtig dosiert eingesetzt ist statisches Dehnen ein sicheres Mittel zur Verbesserung der Beweglichkeit, ohne die Leistungsfähigkeit nachhaltig zu schädigen – und es kann unter bestimmten Umständen sogar positive Effekte auf Kraft und Muskelstruktur haben. Im Folgenden sind einige signifikante neue Erkenntnisse stichpunktartig zusammengefasst: • Wirkung auf Leistung abhängig von Dauer: Kurz gehaltenes statisches Dehnen (<60 s) führt in Kombination mit Aufwärmen zu keinen nennenswerten Leistungsverlusten, während sehr langes Dehnen (>60 s) akute Kraft- und Powerminderungen verursachen kann. • Reflexe weniger entscheidend als angenommen: Klassische Annahmen, die Muskelspindel- und GTO-Reflexe als Hauptfaktor der Dehnungswirkung sahen, wurden relativiert. Diese Reflexeffekte existieren zwar, sind aber nicht langanhaltend und somit für die nachfolgende Leistung von begrenzter Bedeutung. • Dehntoleranz als Schlüssel zur Flexibilität: Die Zunahme der Beweglichkeit durch regelmäßiges Dehnen beruht vor allem auf einer erhöhten neuralen Toleranz gegenüber Dehnungsreizen (verändertes Schmerz- und Dehnungsempfinden) und weniger auf dauerhaften strukturellen Veränderungen. • Keine anhaltende neurale Leistungshemmung: Weder die corticale Erregbarkeit (MEP) noch die basale spinale Reflexbereitschaft werden durch einmaliges oder wiederholtes Dehnen dauerhaft verändert. Die akute Leistungshemmung ist somit primär funktionell und reversibel; bei chronischem Dehnen zeigen sich tendenziell leichte Leistungsverbesserungen (insbes. in wenig trainierten Gruppen) statt Verschlechterungen. • Potentielle Hypertrophie bei intensivem Dehnen: Neuere Studien belegen, dass intensives statisches Dehnen über Wochen nicht nur die Beweglichkeit erhöht, sondern in einigen Fällen auch Muskelanpassungen wie Faserverlängerung und Querschnittsvergrößerung bewirken kann. Dies widerspricht der früheren Meinung, Dehnen wirke ausschließlich auf die Flexibilität, und eröffnet neue Anwendungsfelder (z.B. als ergänzender Reiz im Krafttraining). • Psychoneuronale Faktoren im Blick: Erstmals werden auch psychologische Effekte (z.B. Erwartungshaltung oder mentale Ermüdung) und spezielle neuronale Mechanismen (wie eine mögliche Beeinflussung der Motoneuron-Selbstaktivierung über PIC) in Betracht gezogen. Diese Aspekte könnten erklären, warum individuelle Reaktionen auf Dehnen variieren, und sie liefern Ansätze für weiterführende Forschung zur Optimierung von Dehnprotokollen.
Quellen
- Behm, D. G., & Chaouachi, A. (2011). A review of the acute effects of static and dynamic stretching on performance.
- Kay, A. D., & Blazevich, A. J. (2012). Effect of acute static stretch on maximal muscle performance.
- Simic, L., Sarabon, N., & Markovic, G. (2013). Does pre-exercise static stretching inhibit maximal muscular performance?
- Konrad, A., & Tilp, M. (2014). Increased range of motion after static stretching is due to muscle-tendon adaptation
- McHugh, M. P., & Cosgrave, C. H. (2010). To stretch or not to stretch: The role of stretching in injury prevention and performance.
- Trajano, G. S., Nosaka, K., Seitz, L. B., & Blazevich, A. J. (2014). Neuromuscular adaptations to eccentric vs. conventional resistance training.
- O?Sullivan, K., McAuliffe, S., & Deburca, N. (2012). The effects of eccentric training on lower limb flexibility: A systematic review.
- Nakamura, M., Ikezoe, T., Takeno, Y., & Ichihashi, N. (2012). Effects of static stretching on passive mechanical properties and stretch tolerance.
- Blazevich, A. J., Kay, A. D., & Waugh, C. M. (2014). The neuromuscular adaptation to passive stretching is different to strength training.
- Pulverenti, T., McMahon, J. J., Suchomel, T. J., & Comfort, P. (2019). Cortical excitability following static stretching of the triceps surae.